Tugenden helfen uns auf unserem Weg zur Heiligkeit. Sie stärken unseren Glauben und befähigen uns, Gott besser zu dienen. Es kann jedoch für uns immer wieder sehr enttäuschend sein, wenn wir versuchen Tugenden selbstständig zu erlangen; hier und da machen wir vielleicht kleine Fortschritte, doch dann fallen wir wieder. Warum ist es so schwierig?
Thomas von Aquin gibt nützlichen Rat. Er sah im gekreuzigten Christus den höchsten Ausdruck der göttlichen Weisheit und Liebe, das den Menschen nicht nur erlöst, sondern auch formt. Wer auf den gekreuzigten Christus schaut, lernt, Tugenden zu entfalten, die ohne diese göttliche Schule unerreichbar bleiben.
Das Geheimnis lag für ihn darin, dass wir nicht versuchen, Tugenden aus eigener Kraft zu entwickeln. Durch den Blick auf den gekreuzigten Jesus empfangen wir die nötige Gnade.
Der Mensch fiel, aber Gott stieg herab. Erbärmlich ist der Mensch, aber voll Erbarmen kam Gott hernieder. Der Mensch fiel durch Stolz, Gott kam herab in Gnaden. (Th. v. Aquin)
Er sagte: „Aber welche Notwendigkeit bestand denn, dass das Wort Gottes für uns litt? Eine große! Man kann eine doppelte Notwendigkeit nennen: Sein Leiden war Arznei gegen die Sünde und ein Beispiel für unser Tun.
A) Arznei für die Sünden, denn wir finden gegen alles Böse, das wir durch die Sünde begehen, ein Heilmittel im Leiden Christi. [….]
B) Aber nicht geringer ist sein Nutzen als Vorbild. [….] Wer immer vollkommen leben will soll nichts anderes tun als geringschätzen, was Christus geringschätzte, und begehren, was Christus begehrte. Denn kein Vorbild irgendeiner Tugend ist dem Kreuze fern.
Wenn du das Vorbild der Liebe suchst: „Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben für seine Freunde dahingibt“ (Joh 15,13). Das hat Christus am Kreuze getan. Wenn er sein Leben für uns hingab, dann darf es also uns nicht schwer ankommen, Übles—ganz gleich welches—für ihn zu erdulden. „Was soll ich dem Herrn zurückgeben für alles, was er mir gab?“ (Ps 116 [115], 12).
Wenn du ein Beispiel der Geduld suchst, die höchste Geduld findest du am Kreuze. Zwei Dinge erweisen die Größe der Geduld: dass einer großes Leid in Geduld erträgt oder dass er auf sich nimmt, was er umgehen könnte, aber nicht umgeht. Christus aber hat Großes am Kreuze auf sich genommen. „Ihr alle, die ihr am Wege vorübergeht, achtet auf und seht, ob es einen Schmerz gibt wie meinen“(Klg 1, 12). Und zwar hat er es in Geduld auf sich genommen, denn „als er litt, drohte er nicht“(1 Petr 2,23). Und Jesaja sagt (53,7): „Wie ein Schaf wird er zur Schlachtbank geführt werden, und er wird verstummen wie ein Lamm vor dem, der es schert.“
Er konnte sein Leiden umgehen, aber er umging es nicht. „Glaubst du, der Vater würde mir jetzt nicht mehr als zwölf Legionen Engel geben, wenn ich ihn darum bäte?“ (Mt 26,53).
Groß ist also Christi Geduld am Kreuze. „Mit Ausdauer wollen wir laufen in den Kampf, der uns obliegt, indem wir auf Jesus schauen, den Stifter und Vollender des Glaubens, der das Kreuz auf sich nahm, auf die Freude schaute und die Schande verachtete“(Hebr 12,1).
Wenn du ein Beispiel der Demut suchst, schau auf den Gekreuzigten. Denn Gott selbst hat unter Pontius Pilatus gerichtet werden und sterben wollen. „Deine Sache ist wie die eines Gottlosen vor Gericht entschieden worden“ (Ijob 36,17). In der Tat wie die eines Gottlosen, denn „zum schimpflichen Tode wollen wir ihn verurteilen“ (Weish 2, 20). Der Herr wollte für den Knecht, das
Leben der Engel wollte für den Menschen sterben. „Er ist gehorsam geworden bis zum Tode“(Phil 2,8).
Wenn du ein Beispiel des Gehorsams suchst, folge dem, der dem Vater bis zum Tode gehorsam geworden ist. „Wie durch den Ungehorsam eines einzigen Menschen die vielen zu Sündern geworden sind, so werden durch des einen Gehorsam die vielen zu Gerechten (Röm 5,19).
Wenn du ein Beispiel für die Geringschätzung des Irdischen suchst, folge dem, der der König der Könige und der Herr der Herrscher ist, in dem die Schätze der Weisheit sind. Folge dem, der dennoch am Kreuze entkleidet, verspottet, bespien, geschlagen, mit Dornen gekrönt, mit Galle und Essig getränkt worden und gestorben ist. Also hafte nicht an den Kleidern und am Reichtum, denn „sie haben meine Kleider unter sich geteilt“ (Ps 22 [2f1f],19); nicht an Ehren denn „ich habe Spott und Schläge erfahren“; nicht an Würde, denn „“ sie flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie mir auf das Haupt“; nicht an Genüssen, denn „sie tränkten mich in meinem Durst mit Essig“ (Ps 69 [68], 22). –Über das Wort des Hebräerbriefs: „Der das Kreuz auf sich nahm und auf die Freude schaute“ (Hebr 12,2) sagt Augustinus: „Der Mensch Christus achtete Irdisches gering, um uns zu zeigen, was wir gering achten sollen.“*
Für Pater Pio war der gekreuzigte Christus zentral, im Gebet und insbesondere in der heiligen Messe. Einer seiner geistlichen Kinder, der Priester Don Piero Galeone, erzählt in seinem Buch Pater Pio mein Vater: „Pater Pio erklärte mir den Weg des Leidens: […] Man lernt jeden schmerzerfüllten Zustand Jesu bewundern, verehren und lieben: die Armut und das Exil, seine Arbeit und sein verborgenes Leben, die mühselige und beschwerliche Zeit des öffentlichen Wirkens und die physischen und seelischen Leiden auf seinem langen und schmerzhaften Leidensweg. Die Seele fühlt sich mutiger im Leiden und in der Traurigkeit, legt sich liebevoll neben Jesus auf das bloße Kreuz, richtet den Blick voller Mitleid auf ihn und vernimmt von seinen Lippen: „Selig, die aus Liebe zur Gerechtigkeit leiden“ (vgl. Mt 5, 10). Die Hoffnung, immer mehr mit Christus an der Verherrlichung teilzuhaben, lässt die Kreuzigung mit ihm erträglicher werden, bis man sich schließlich im Elend und im Leiden freut.“
Pater Pio lebte dieses Vorbild in seinem eigenen Leben: „Die wahre christliche Seele lässt keinen Tag vorübergehen, ohne das Leiden Christi betrachtet zu haben.“, sagte er. Geplagt von körperlichen Schmerzen und inneren Prüfungen, war er dem leidenden Christus immer nah. Daraus schöpfte er die Liebe und Opferbereitschaft und erhielt die nötigen Gnaden. Diese übernatürliche Liebe formte sein Leben. Seine Wundmale waren nicht nur äußere Zeichen, sondern Ausdruck seines inneren Mit-Leidens mit Christus. Sein ganzes Sein war eine Antwort auf die Liebe, die vom Kreuz kommt.
„ Die Liebe ist gekreuzigt und man findet sie nur am Kreuz .“
Seine Worte zeigen, dass wir vom gekreuzigten Christus lernen können, wie wir auf Rückschläge und Schwierigkeiten antworten. Wir lernen, Leid nicht nur zu ertragen, sondern es mit Liebe anzunehmen. Die Liebe, die das Kreuz entfacht, ist nicht sentimental, sondern ist opferbereit und wird durch Leiden gereinigt. Wenn wir das Kreuz betrachten, können wir aus der Liebe mit der Christus sich am Kreuz hingab lernen, es wird für uns eine Schule der Tugend, ein Weg zur Heiligkeit. In der Betrachtung des Gekreuzigten wird Demut und Gehorsam, Geduld, Liebe,
Hoffnung und Glaube in uns zunehmen. Wer sich von Ihm formen lässt, wird nicht nur stärker, sondern mehr in das Bild dessen verwandelt, der aus Liebe sein Leben hingab.
Pater Pio sagt es mit anderen Worten:
„Denken wir an das Leiden und den Tod Unseres Herrn und an sein Blut, das er für uns vergossen hat. Dann werden wir uns nicht mehr über unser Leiden beklagen.“
Nutzen wir die Gelegenheit der Fastenzeit, die sich langsam nähert, um den klugen Rat dieser zwei großen Heiligen in die Tat vorzunehmen und umzusetzen. Bringen wir unsere Sorgen und Leiden dar vor unsern gekreuzigten Herrn und lernen wir von Ihm.
*Thomas von Aquin, aus: Das Credo, Auslegungen zum Apostolischen Glaubensbekenntnisses. Lateinisch-deutsch (=Einführende Schriften, 3), München: Pneuma 2019, Deutsche Übersetzung von Josef Pieper