Vom Sinn der Geschichte
Eine schwere Frage und viele Antworten
Alles bisher über die Größe und Schönheit der Schöpfung und über die Berufung des Menschen Gesagte scheint unrealistisch und naiv optimistisch zu sein. Wie soll man denn angesichts der Hölle von Auschwitz, von Hiroshima, des Archipel Gulag – um nur ein paar Orte des Grauens in unserem Jahrhundert zu nennen – den Gott loben, „der alles so herrlich regieret“ (Gotteslob 258)? Schon die Psalmen kennen die Erfahrung, daß es den Bösen gut, den Gerechten aber schlecht geht (vgl. Ps 73,3-12). Die Frage „Warum muß der Gerechte leiden?“ beschäftigt vor allem das Buch Ijob. Ijob ist nicht nur der große Dulder, der das oft zitierte Wort spricht: §Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn“ (Ijob 1,21). Ijob kämpft und streitet mit Gott. Er bäumt sich auf und verflucht den Tag seiner Geburt (Ijob 3,2-3). „Zum Ekel ist mein Leben mir geworden“ (Ijob 10,1). Er verwirft die allzu einfachen Antworten, die seine Freunde ihm auf das Problem des ungerechten Leidens geben. Ihm geht Gott als der je größere und als der ganz andere auf, dessen Wege dem Menschen unergründlich sind und dessen Weisheit unerforschlich ist. (vgl. Ijob 40,2-4; 42,2-4).
Dennoch haben sich die Menschen immer wieder bemüht, Einsicht zu gewinnen in das Auf und Ab der Geschichte. Zwei Grundmodelle der Geschichtsdeutung wurden entwickelt. Das erste Modell: die Geschichte als ein großer Kreislauf. Am Anfang steht die gute alte Zeit, das goldene Zeitalter; ihm folgen das silberne, das bronzene und das eiserne Zeitalter. Dir Geschichte ist also ein großer Verfallsprozeß, aber am äußersten Treffpunkt ereignet sich ein Umschlag. Am Ende kehrt der Anfang zurück; der Kreis hat sich geschlossen. Das zweite Modell sieht die Geschichte als eine aufsteigende Linie, als Fortschrittsgeschichte auf dem Weg zum Besseren und Höheren.
Die Geschichte ist nicht die ewige Wiederkehr des Gleichen wie im Kreislaufmodell, sondern das Kommen des Neuen und einer bisher nicht dagewesenen Zukunft. Ansätze zu dieser Sicht finden sich in der Zukunftshoffnung der alttestamentlichen Propheten. In säkularisierter Gestalt begegnet uns diese Sicht im modernen Fortschrittsglauben und in der marxistischen Utopie von einem künftigen Reich der Freiheit in einer klassenlosen, Herrschaftsfreien Gesellschaft.
Man wird fragen, ob diese beiden Geschichtsdeutungen der Leidenserfahrung der Menschheit wirklich gerecht werden. Denn, läßt sich das Leiden des Menschen in irgendein allgemeines Schema verrechnen? Wird man mit solchen Deutungen dem Leiden des je einzelnen gerecht?
Ihrem Grundanliegen gemäß will uns die Heilige Schrift keine innerweltliche Geschichtsdeutung geben. Die Bibel sagt uns zwar: Alles kommt von Gott, und alles kehrt zu ihm zurück. Aber der Geschichtsverlauf selbst läßt sich in kein Schema pressen, weder in ein Verfallschema noch in ein Fortschrittsschema. Die Geschichte ist, wie Augustinus in seinem „Gottesstaat“ gezeigt hat, ein ständiger Kampf zwischen zwei Reichen: dem Reich Gottes und dem Reich des Bösen (des Satans). Sie unterscheiden sich durch zweierlei Liebe: Gottesliebe und Selbstliebe. Meist ist beides miteinander vermischt. Deshalb darf man einzelne geschichtliche Ereignisse nicht vorschnell als Zeichen Gottes oder als Ausgeburt des Bösen deuten. Man muß vielmehr wissen, daß Gott ein verborgener Gott ist, der uns allein in Jesus Christus eindeutig erschienen ist. Allein von Jesus Christus her haben wir den Maßstab, um die Geschichte und das Leben zu beurteilen. „Durch Christus und in Christus also wird das Rätsel von Schmerz und Tod hell, das außerhalb seines Evangeliums uns überwältigt“ (GS 22). Die volle christliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Leidens wird uns deshalb erst später bei der Behandlung des Kreuzes Jesu Christi voll deutlich werden.
Quelle: Katholischer Erwachsenen Katechismus – Das Glaubensbekenntnis der Kirche – Hrsg.: von der Deutschen Bischofskonferenz – Verband der Diözesen Deutschlands, Bonn – 1985 – Seiten: Teil 126, 127 und Teil 128.