Als Er in die Hauptstadt eintritt, bereitete Ihm die Bevölkerung einen demonstrativen Empfang. Aus sehr unterschiedlichen Motiven! Die einen hofften, Er würde für Brot sorgen, wirksame Maßnahmen gegen die Seuchen ergreifen und die Anmaßungen der Reichen eindämmen. Sie sahen in Ihm den Mann der Masse, den Vorkämpfer gegen soziale Ungerechtigkeit. Andere Glaubten, dass Er gegen die Besatzungsmacht aufstehen werde. Sie sahen in Ihm den Wortführer der nationalen Erhebung. Diese Ansicht wurde seltsamerweise sowohl von Seinen Anhängern wie von Seinen Gegnern verbreitet. Obschon Er bisher deutlich vermieden hatte, politische Forderungen zu stellen.
Rückblickend lässt sich sagen, dass sein triumphaler Einzug – unter diesen Umständen – schon die kommende Katastrophe vermuten ließ. Denn – wie immer Er auch Seine Aufgabe ansah – in den Augen der Menge war Er abgestempelt! Sie hatten ihre Wünsche in Ihn hineininterpretiert. Sie hatten Ihn zum Fanal erhoben. Nicht, was Er selbst wollte, war entscheidend. Entscheidend war, was man von Ihm erwartete. So groß der Jubel war, der Ihn in die Stadt trug: so heftig musste die Enttäuschung sich auswirken, wenn der Gefeierte es wagen sollte, nicht der zu sein, den der Wille der Menge sich wünschte.
Einer Seiner Anhänger verriet Ihn. Das Motiv des Verrates ist schwer zu durchschauen. Die relativ geringfügige Geldsumme war kaum ein ausreichender Grund. Der Mann, der sich den Behörden anbot, hatte weit mehr aufgegeben, als er sich Ihm anschloss. Es fällt schwer, in diesem Manne nur ein käufliches Subjekt zu vermuten. Auch waren die Behörden nicht auf seine Beihilfe angewiesen. Denn es war nicht schwierig, Ihn und Seine Begleiter beobachten zu lassen. Eher schon dürfte es eine taktische Erwägung angeraten haben, einen Seiner engsten Vertrauten als Gegenspieler einzuschalten.
Der Mann, der Ihn auslieferte, dürfte durch diese Tat eine persönliche Rechnung beglichen haben. Offenbar war er Ihm gefolgt, weil er von Ihm den politischen Umschwung erwartete. Aber Er hatte jede politische Chance verfallen lassen. Es war in den letzten Wochen immer klarer geworden, dass Ihn eine andere Konzeption beherrschte. Der Verrat ist wahrscheinlich darin begründet, dass der Verräter zunächst sich selbst verraten glaubte. Wer auf eine Revolution aus ist und für sie beträchtliche Opfer gebracht hat, reagiert empfindlich, wenn er sich genarrt fühlt. Dafür, dass er kein simpler Spitzel war, dass ihn vielmehr eine sonderbare Hassliebe an sein Opfer fesselte, spricht auch die Tatsache, dass er nachher Selbstmord beging. Weil er unschuldiges Blut vergossen habe! Auch er zweifelte offensichtlich nicht an der persönlichen Lauterkeit seines Opfers.
Das Missverständnis in den eigenen Reihen begünstigte den verhängnisvollen Lauf der Ereignisse. Es ist eigenartig, dass Er – der sich vor allem durch eine Wandlung der Gesinnung eine Änderung der Verhältnisse versprach – Männer um sich gesammelt hatte, die von Herkunft her mehr auf System, Methode und Organisation vertrauten. Einige stammten aus Ortschaften, deren Sympathie mit den Partisanenbewegungen bekannt war. Es ist nicht erstaunlich, dass Männer dieser Prägung dazu neigten zunächst auf den gewaltsamen Umschwung der äußeren Verhältnisse zu bauen. Die neuen Machtumstände – so meinten sie – würden die innere Umwandlung dann von selbst bewirken.
Dieses Missverständnis erklärt auch die unglückliche Rolle, die jener Mann, den Er zu Seinem Stellvertreter ernannt hatte, bei Seiner Verhaftung spielte. Dieser heißblütige und robuste Mann versuchte zunächst einen völlig sinnlosen Befreiungsversuch: einen Versuch, der ihn – angesichts des großen Polizeiaufgebotes – leicht das Leben hätte kosten können. Trotzdem wagte er sich nachher auf den Vorhof, in dem das erste Verhör stattfand. Das spricht für seinen Mut und seine Anhänglichkeit. Aber Er unternahm nicht den kleinsten Versuch, der Affäre eine andere Wendung zu geben.
Obwohl sich – zu diesem Zeitpunkt – noch viel Volk für Seine Sache hätte aufbringen lassen! Das sah aus wie Resignation. Und so wurde auch Sein nächster Vertrauter an Ihm irre.
Der Statthalter der Besatzungsmacht sah sich in einer unangenehmen Zwickmühle. Es wäre falsch zu behaupten, dass er es sich allzu leicht gemacht hätte. Immerhin unternahm er drei Versuche, um den Angeklagten das Schlimmste zu ersparen. Denn er war ziemlich sicher, dass die Anklage auf Revolutionsversuch nur als Vorwand herhalten sollte.
Der Stadthalter wollte zunächst den Fall an den Landesfürsten abschieben, zumal dieser ihm mehrmals vorgeworfen hatte, er mische sich in seine internen Kompetenzbereiche. Aber der Angeklagte trat so stolz und schweigsam auf, dass sich de Fürst durch Ihn missachtet fühlte und Ihn wieder zurückschickte.
Der Stadthalter versuchte es dann mit einem Trick, der zumindest die wahre Gesinnung der Anklage entlarven musste… Da er zum Fest stets einen Gefangenen zu amnestieren pflegte, stellte er dem Angeklagten, dem jedenfalls kein Gewaltverbrechen nachgewiesen werden konnte, einen Mann gegenüber, der wegen politischen Mordes und Aufruhr eingekerkert war. Dann fragte er die Ankläger, welchen von beiden sie freibitten wollten.
Obschon diesen – laut Anklage – der „Friede mit der Besatzungsmacht“ sehr am Herzen lag, zogen sie es doch vor, den politischen Mörder zu wählen. Eine Inkonsequenz, die der Stadthalter mit Spott registrierte.
Nach diesen Fehlschlägen glaubte der Statthalter, dem Angeklagten am besten helfen zu können, wenn es gelänge, Ihn lächerlich zu machen und als harmlos hinzustellen. Er ließ Ihn auspeitschen und führte Ihn so der Menge vor. Wie sollte ein erniedrigter Mann, der zum allgemeinen Gespött geworden war, noch gefährlich sein!
Aber das Volk steigerte sich immer mehr in Raserei. Es warf dem Stadthalter vor, dass er seine Pflichten zur Wahrung der öffentlichen Ordnung vernachlässige. Es drohte mit einer Beschwerde bei der obersten Instanz.
Der Stadthalter war sich darüber klar, dass man dort die komplizierte Lage zu wenig überschauen konnte, um sein Verhalten zu verstehen. Dort würde man nur feststellen, dass er um einer Sache willen, die – aus dem Aspekt der obersten Reichsgewalt – eine Bagatellangelegenheit war, Unruhen provoziert habe. So sah er es als das geringere Übel an, einen Unschuldigen preiszugeben, als die schwierige Lage der Besatzungsmacht durch ständige Meutereien zu gefährden.
Die Soldaten taten das übrige. Eigentlich war Er ihnen gleichgültig. Aber sie reagierten an Ihm ihren Unmut ab: weil sie unter fremder Sonne Dienst tun mussten; weil die einheimische Bevölkerung sie im geheimen hasste; weil überall hinter dem Rücken der Legionäre ohnmächtige Träume von Volkshelden und Revolutionären wucherten. Abgesehen davon war die Hinrichtung: Pflicht! Man wurde dazu eingeteilt.
Er war vor dem Stadthalter schweigsam gewesen. Er widerrief nichts. Weder unter der Peitsche noch am Kreuze. Er tat, als ob alles seine Richtigkeit hätte. In einem Sinne, den kein Mensch verstand. Er verfluchte niemanden.
Seine Ankläger waren inzwischen zum Gottesdienst gegangen, wie es der Brauch des Festes vorschrieb. Alle die zu Ihm hielten, galten als ausgestoßen. Bei dem Kreuz standen einige Frauen. Unter ihnen auch eine von zweifelhaften Ruf. Es war eine späte Rechtfertigung Seiner These: dass erfahrene Schande – unter Umständen – mehr Sinn für fremde Schmach aufbringt als unangefochtene Tugend.
Er wurde nicht auf den Verbrecherfriedhof verscharrt. Zwei Ratsherren erbaten von dem Stadthalter die Erlaubnis, Ihn in einem Ehrengrab zu bestatten. Sie hatten zu Seinen Lebzeiten nicht gewagt, sich offen zu Ihm zu bekennen.
Das Grab wurde polizeilich bewacht. Man fand es – trotzdem – am dritten Tage leer. Erstaunlich bleibt, dass Seine Anhänger, die bei Seiner Verhaftung nur auf die eigene Sicherheit bedacht waren, sich jetzt, da alles verloren schien, wieder zu Ihm bekannten.
Aber sie wussten: Er war zu ihnen gekommen. Er lebte. Er war von den Toten auferstanden.
Für diese Überzeugung gingen sie in den Tod. – Rochus Spiecker
Quelle: Zwischen Gewalt und Gnade – Katholisches Hausbuch 1992 – St. Benno Verlag – Leipzig