In der Menschwerdung des Sohnes Gottes erkennen wir die Anfänge der Kirche. Alles kommt von dort her. Jede geschichtliche Verwirklichung der Kirche und auch jede ihrer Institutionen muss sich auf jene Urquelle zurückbesinnen. Sie muss sich zurückbesinnen auf Christus, fleischgewordenes Wort Gottes. Er ist es, den wir immer feiern: der Immanuel, der Gott-mit-uns, durch den sich der Heilswille des Vaters erfüllt hat. Und dennoch (gerade heute betrachten wir diesen Aspekt des Geheimnisses) fließt die göttliche Quelle durch einen privilegierten Kanal: die Jungfrau Maria. Mit einem ausdrucksstarken Bild spricht der hl. Bernhard diesbezüglich von „aquaeductus“ (vgl. Sermo in Nativitate B. V. Mariae: PL 183, 437 – 448). Wenn wir die Menschwerdung des Sohnes feiern, ehren wir immer auch die Mutter. An sie erging die Verkündigung des Engels: sie nahm sie an, und als sie aus tiefsten Herzen antwortete: „Ich bin die Magd des Herrn: mir geschehe, wie du es gesagt hast“ (Lk. 1, 38), begann in jenem Augenblick das ewige Wort sein Dasein als Mensch in der Zeit.
Von Generation zu Generation bleibt das Staunen über dieses unfassbare Geheimnis lebendig. Der hl. Augustinus stellt sich vor, dass er sich an den Engel der Verkündigung wenden und ihn fragen würde: „Sag mir, Engel, warum ist das an Maria geschehen?“ Die Antwort, so der Bote, ist in den Grußworten enthalten: „Sei gegrüßt, die du voll der Gnade bist“ (vgl. Sermo 291.6). In der Tat, als der Engel „bei ihr eintritt“, nennt er sie nicht mit ihrem irdischen Namen Maria, sondern mit ihrem göttlichen, so wie Gott sie seit jeher sieht und bezeichnet: „Voll der Gnade – gratia plena“, „Begnadete“, und die Gnade ist nichts anderes als die Liebe Gottes, so dass wir dieses Wort schließlich mit die von Gott „geliebte“ (vgl. Lk. 1, 28). Origines hält fest, dass niemals ein Mensch mit einem solchen Ehrentitel bedacht worden sei und dass dieser an keiner anderen Stelle der ganzen Heiligen Schrift vorkomme (vgl. In Lucam 6, 7). Der Titel ist in passiver Form ausgedrückt, aber diese „Passivität“ Mariens, die von jeher und für immer die von Herrn „geliebte“ ist, schließt ihre freie Zustimmung, ihre persönliche und eigene Antwort ein: Im Geliebtsein, im Empfangen der Gabe Gottes, ist Maria ganz aktiv, weil sie die Flut der Liebe Gottes, die sich in sie ergießt, in persönlicher Bereitschaft aufnimmt. Auch darin ist sie vollkommene Jüngerin ihres Sohnes, der durch den Gehorsam gegenüber dem Vater seine eigene Freiheit ganz verwirklicht und eben auf diese Weise seine Freiheit ausübt, indem er gehorcht. In der Zweiten Lesung haben wir die wunderbare Stelle gehört, wo der Verfasser des Hebräerbriefes den 40. Psalm im Licht der Menschwerdung Christi auslegt: „Darum spricht Christus bei seinem Eintritt in die Welt: . . Ja, ich komme, um deinen Willen, Gott, zu tun“ (Hebr 10, 5 – 7). Angesichts des Geheimnisses dieses zweifachen „Siehe, hier bin ich“ – des „Siehe, hier bin ich“ des Sohnes und des „Siehe, hir bin ich“ der Mutter, die sich ineinander widerspiegeln und ein einziges Amen zum Liebeswillen Gottes bilden – verweilen wir in Staunen und beten voll Dankbarkeit an. ( . . . )
Die Ikone der Verkündigung lässt uns besser als jede andere ganz klar wahrnehmen, wie alles in der Kirche auf jenes Geheimnis der Annehme des Göttlichen Wortes zurückgeht, wo durch das Wirken des Heiligen Geistes der Bund zwischen Gott und der Menschheit in vollkommener Weise besiegelt worden ist. Alles in der Kirche, jede Einrichtung und jeder Dienst, auch der des Petrus und seiner Nachfolger, ist unter dem Mantel der Jungfrau „hineingenommen“ in die Gnadenfülle ihres „Ja“ zum Willen Gottes. Es handelt sich um ein Band, das in uns allen natürlich einen starken gefühlsmäßigen Widerhall findet, dem aber vor allem eine objektive Wertigkeit zukommt.
Zwischen Maria und der Kirche besteht in der Tat eine Konnaturalität, die das Zweite Vatikanische Konzil mit der glücklichen Entscheidung, den Traktat über die allerseligste Jungfrau an den Schluss der Konstitution über die Kirche Lumen gentium zu stellen, nachdrücklich unterstrichen hat.
( . . . ) mach dem sie die Botschaft des Engels empfangen hatte, war die erste Tat Mariens, dass sie zum Haus ihrer Base Elisabeth „eilte“, um ihr zu dienen (vgl. Lk. 1, 39) Die Jungfrau Maria handelte aus echter, demütiger und mutiger Liebe, vom Glauben an das Wort Gottes und vom inneren Antrieb des Heiligen Geistes geführt. Wer Liebt, vergißt sich selbst und stellt sich in den Dienst des Nächsten. Das ist das Bild, das Modell der Kirche! Jede kirchliche Gemeinschaft ist wie die Mutter Christi dazu aufgerufen, in voller Bereitschaft das Geheimnis Gottes anzunehmen, der kommt, um in ihr zu wohnen, und sie auf Wege der Liebe führt.
(Predigt zu Mariä Verkündigung, 25 März 2006)
Quelle: MARIA – Papst Benedikt XVI. über die Gottesmutter – Sankt Ulrich-Verlag, Augsburg