Herr, Du weißt besser als ich, dass ich von Tag zu Tag äl¬ter und eines Tages alt sein werde.
Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen.
Erlöse mich von der großen Leidenschaft, die Angelegen¬heiten anderer ordnen zu wollen.
Lehre mich, nachdenklich aber nicht grüblerisch, hilfreich aber nicht diktatorisch zu sein.
Bei meiner, ungeheuren Ansammlung von Weisheit er¬scheint es mir ja schade, sie nicht weiterzugeben – aber Du verstehst, o Herr, dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.
Bewahre mich vor der Aufzählung endloser Einzelheiten und verleihe mir Schwingen, zur Pointe zu gelangen.
Lehre mich schweigen über meine Krankheiten und Be¬schwerden. Sie nehmen zu – und die
Lust, sie zu beschreiben, wächst von Jahr zu Jahr.
Ich wage nicht, die Gabe zu erflehen, mir die Leidensbe¬richte anderer mit Freuden anzuhören, aber lehre mich, sie geduldig zu ertragen.
Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann.
Erhalte mich so liebenswert wie möglich. Ich möchte keine Heilige sein – mit ihnen lebt es sich so schwer -‚ aber ein alter Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels.
Lehre mich, an anderen Menschen unerwartete Talente zu entdecken, und verleihe mir, o Herr, die schöne Gabe, es ihnen auch zu sagen.
Von Teresa von Ávila (1515 – 1582)
Teresa von Ávila, geboren als Teresa Sdnchez de Cepeda y Ahumada (* 28. März 1515 in Avila, Kastilien, Spanien, + 4. Oktober 1582 in Alba de Tormes, bei Salamanca), war Karmeliterin sowie Mystikerin. In der katholischen Kirche wird sie als Heilige und Kirchenlehrerin verehrt. 1614 wurde sie seliggespro¬chen, 1617 zur Schutzpatronin von Spanien ernannt und 1622 heiliggesprochen. 1944 wurde sie von Papst Pius XII. zur Schutzpatronin der Schachspieler ernannt.