Der Targum Neofiti gehört zu den kostbarsten, lange übersehenen Zeugnissen der jüdischen Auslegungstradition der Heiligen Schrift. Seine Wiederentdeckung im Jahr 1956 in der Vatikanischen Bibliothek eröffnete der biblischen Theologie einen Zugang zu einem geistlichen und hermeneutischen Raum, in dem das Wort Gottes nicht nur als Text, sondern als lebendige, wirkende Gegenwart erfahren wird. Obwohl das erhaltene Manuskript mittelalterlich ist, bewahrt sein Inhalt Überlieferungen aus dem 1.–3. Jahrhundert und greift Traditionen auf, die bis in vorchristliche Zeit zurückreichen.
Für die Kirche ist der Targum Neofiti von außerordentlicher Bedeutung, da er das geistige und religiöse Milieu sichtbar macht, in dem Jesus Christus lebte, betete und die Schrift auslegte. Er bezeugt die innere Kontinuität der göttlichen Offenbarung und hilft, das Verhältnis zwischen Altem und Neuem Bund nicht als Gegensatz, sondern als heilsgeschichtliche Einheit zu begreifen, die im Christusereignis ihre Vollendung findet.
1. Wesen und Funktion des Targum Neofiti
Der Targum Neofiti ist eine aramäische Übertragung und Auslegung des Pentateuch, entstanden aus einem zutiefst pastoralen Anliegen: das Wort Gottes dem Volk in seiner gesprochenen Sprache zugänglich zu machen. Während das Hebräische als heilige und liturgische Sprache bewahrt wurde, diente das Aramäische der Verkündigung und Katechese in der Synagoge.
Die Targume sind daher keine neutralen Übersetzungen, sondern theologisch reflektierte Auslegungen. Sie aktualisieren die Schrift, legen ihre innere Logik offen und führen das hörende Volk in die Wirklichkeit der Offenbarung hinein. Der Targum Neofiti zeigt exemplarisch, dass das Wort Gottes von Anfang an auf Beziehung, Verständnis und Verwandlung des Menschen ausgerichtet ist.
2. Die Memra: personale Vermittlung der göttlichen Gegenwart
Im Zentrum der Theologie des Targum Neofiti steht der Begriff Memra („Wort“). Ursprünglich aus Ehrfurcht vor dem unaussprechlichen Namen Gottes gebraucht, entfaltet sich die Memra im Targum zu einer personalen Größe, durch die Gott handelt und sich mitteilt.
Die Memra erschafft die Welt, offenbart den göttlichen Willen, begleitet Israel durch die Geschichte, befreit, richtet und wohnt mitten unter dem Volk. Sie ist keine abstrakte Redeweise, sondern Ausdruck einer realen, wirksamen Gegenwart Gottes in der Geschichte. Diese Vorstellung bildet eine bemerkenswerte theologische Brücke zur christlichen Offenbarung des Logos, wie sie insbesondere im Prolog des Johannesevangeliums entfaltet wird: „Im Anfang war das Wort … und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,1.14).
Aus christlicher Perspektive erscheint die Memra als Vorausdeutung auf den Sohn, das ewige Wort des Vaters, durch das alles geschaffen ist und durch das Gott endgültig in die Geschichte eintritt. Der Targum Neofiti bezeugt somit keine Konkurrenz zur christlichen Christologie, sondern eine heilsgeschichtliche Vorbereitung, die den inneren Zusammenhang der Offenbarung sichtbar macht.
3. Kirchliche und theologische Relevanz in der Gegenwart
Bei zunehmender geistlicher Orientierungslosigkeit und eines oft fragmentierten Bibelverständnisses bietet der Targum Neofiti der Kirche entscheidende Impulse:
- Die Bestätigung der Schrift als lebendige Stimme Gottes
Die Heilige Schrift ist nicht primär ein Objekt historischer Analyse, sondern ein Wort, das im Hören, Feiern und im Gehorsam lebendig wird. - Vertiefung des christologischen Fundaments
Er eröffnet ein tieferes Verständnis dafür, warum die Verkündigung Jesu durch die Apostel als Erfüllung der Schrift erfahren wurde. - Erfahrung der Treue Gottes in der Geschichte
Der Targum bezeugt einen Gott, der sein Volk nicht verlässt, sondern es durch sein Wort begleitet und trägt.
4. Das Pentateuch im Licht der Memra
Der Targum Neofiti zeigt die Bedeutung der Memra durch alle fünf Bücher Mose hindurch:
- Genesis: Die Schöpfung vollzieht sich durch die Memra, was der christlichen Überzeugung entspricht, dass alles durch Christus und auf ihn hin geschaffen ist (Kol 1,16).
- Exodus: Die Memra führt Israel aus der Knechtschaft, schützt es und richtet über die Mächte des Todes – ein deutliches Vorausbild des österlichen Heilshandelns Gottes.
- Levitikus und Numeri: Die Memra wohnt inmitten des Volkes, heiligt es und macht es fähig zur Gemeinschaft mit Gott, was in der sakramentalen Theologie der Kirche eine tiefe Entsprechung findet.
- Deuteronomium: Das Wort Gottes erscheint als geistliche Pädagogik, die das Herz des Volkes formt und es auf das verheißene Land vorbereitet.
5. Geistliche Implikationen
Der Targum Neofiti lehrt, dass Gott zu uns spricht, ohne seine Transzendenz zu verlieren. Er hilft, Christus als das ewige Wort zu erkennen, das die gesamte Heilsgeschichte durchzieht, und erinnert daran, dass der Glaube wesentlich gemeinschaftlich ist: genährt durch Liturgie, Verkündigung und geteiltes Hören auf das Wort.
Eine alte Stimme im Dienst des lebendigen Wortes
Der Targum Neofiti ist kein bloßes historisches Dokument, sondern ein geistliches Zeugnis von bleibender Aktualität. Er bekennt, dass Gott spricht, handelt, wohnt und rettet durch sein Wort. Für die Kirche unserer Zeit kann er zu einer erneuerten Liebe zur Schrift führen und befähigt dazu, in allen Teilen der Bibel die lebendige Gegenwart Christi zu erkennen — des Wortes, das von Anfang an bei Gott war und in der Fülle der Zeit unter uns Wohnung genommen hat.