„Es war ein herrlicher Morgen. Die Stadt N. hatte ihr Festgewand angelegt, denn die Katholiken wollten Prozessionen halten. Soeben hatte ich meine Kameraden verlassen und stand auf der Treppe, die zum Wirtshaus führte, als ich in der Ferne viele Leute bemerkte. Auf das Treppengeländer gestützt, sah ich neugierig dem wachsenden Haufen zu. Schon drangen dumpfe Töne an mein Ohr. Der sich entfaltende Zug kam langsam näher. Um nicht zu grüßen, hatte ich mir vorgenommen, zeitig in die Wirtschaft zu treten.
Mittlerweile waren jedoch schon, ohne daß ich es recht innewurde, die Ersten der Prozession an mir vorübergezogen. Ich behielt meinen Hut auf dem Kopfe und war nun fest entschlossen, in dieser Haltung dem ganzen Zuge zuzusehen und war froh, so meinen heldenmütigen Protestantismus an den Tag legen zu können. Meine Augen ruhten starr auf dem Traghimmel, unter welchem, wie ich früher einmal vernommen, das hochwürdigste Gut getragen wurde. Jetzt bemerkte ich die Monstranz, welche der Priester in den Händen hielt, und in derselben einen weißen Punkt. Fast war man mit ihr in meine Nähe gekommen. Ich erneuerte meinen Vorsatz, den Hut aufzubehalten und um keinen Preis niederzukien. Ich war ja Protestant!
Da hielt die Prozession an. Der Traghimmel befand sich mir gegenüber. Meine neugierigen Augen ruhten auf dem weißen Punkte, den die Katholiken „Hostie“ nennen. Es schien mir, als ob dieser weiße Punkt sich vergrößere. Jetzt tanzte und schwindelte es vor meinen Augen. Ich fühlte mich tief erschüttert. Es bemächtigte sich meiner etwas, was ich nicht beschreiben kann. Gegen meinen Willen zog ich den Hut vom Kopfe und sank auf beide Knie nieder – ich war bekehrt! In Tränen gebadet, lag ich da und betete Denjenigen an, gegen den ich hatte protestieren wollen!
Die imposante Feier, die fromme Andacht der Gläubigen, der erhabene Ernst, welcher auf dem Mittelpunkte der Prozession und dessen nächster Umgebung ruhte – die Gnade Gottes hatte sich meiner bemächtigt. In kniender Haltung sah ich der Prozession nach, dann schloß ich mich ihr an und begleitete sie bis zur Kirche. Aus der Kirche eilte ich darnach sofort zu einem katholischen Priester und erzählt ihm die Begebenheit.“
Soweit der Bericht des jungen Mannes. Und welche Folgen hatte dieses Fronleichnamserlebnis? Er ließ sich im katholischen Glauben unterrichten und trat zur katholischen Kirche über. Darauf studierte er Theologie, wurde Priester und trat in einen Orden ein, um als Missionär auch andere Seelen zur Erkenntnis der Liebe Jesu im heiligsten Sakrament zu führen und ihnen zum Himmel zu verhelfen. Nachdem er mehrere Jahre eifrigst in seiner deutschen Heimat gewirkt, wurde er, infolge des kirchenfeindlichen Kulturkampfes nach dem fernen China in die Verbannung geschickt. Zehn Jahre arbeitete er dort an der Bekehrung der Heiden. Von Asien zurückgerufen, weilte er im Kreise deutscher Landsleute, jedoch immer noch aus der engeren Heimat verbannt.
Längst ist jener seeleneifrige Apostel und Konvertit in die ewige Heimat eingegangen, um jenen in seliger Freude unverhüllt zu schauen, der einst währen der Fronleichnamsprozession als „weißer Punkt“ seinen Blick und sein Herz für immer an sich gezogen hatte.
„Der Pelikan“, 1893, Feldkirch, – Santa Rita, 15. Jahrang, Nr. 10, Juni 1966