„Schon Maria, die Mutter des Herrn, wurde nicht um ihrer Stärke willen erwählt, sondern wegen ihrer innerlichen Kleinheit.“
Mit dem Eintritt in die österliche Zeit, dem Heimgang von Papst Franziskus und dem Marienmonat Mai, rückt eine Tugend ins Zentrum der geistlichen Betrachtung, die in unserer Zeit oft übersehen wird: die Demut. Sie ist nicht nur ein christliches Ideal, sondern ein Fundament wahrer Selbsterkenntnis und Gottesbeziehung.
Der heilige Thomas von Aquin beschreibt Demut als jene Tugend, die den Menschen davor bewahrt, sich selbst zu überschätzen. Sie schützt ihn davor, sich über Gebühr nach hohen Dingen auszustrecken – nach Ruhm, Wissen, Macht oder Einfluss –, insbesondere dann, wenn diese an die Stelle Gottes treten. In dieser Zurücknahme liegt kein Minderwert, sondern eine tiefe Klarheit: Alles, was wir sind und haben, ist Geschenk. Unsere Fähigkeiten, unser Verstand, unsere Talente – nichts davon stammt aus uns selbst. Der Apostel Paulus bringt dies schlicht auf den Punkt: „Was besitzt du, das du nicht empfangen hast?“ (1 Kor 4,7).
Papst Franziskus betonte in einer Generalaudienz im Mai 2024: Demut sei das Gegenmittel gegen den Stolz – jenes zerstörerische Gift, das den Menschen größer erscheinen lässt, als er ist, und damit sein Verhältnis zur Welt und zu seinen Mitmenschen verzerrt. Hochmut bläht das Herz auf, lässt eigene Fehler klein und die der anderen übergroß erscheinen. Demut dagegen stellt alles ins rechte Maß: Wir sind wunderbare Geschöpfe – begrenzt, mit Licht und Schatten.
In dieser Haltung offenbart sich nicht Schwäche, sondern Wirklichkeitssinn. Der Mensch erkennt seine Kleinheit – nicht, um sich selbst zu erniedrigen, sondern um sich dem Größeren zu öffnen: Gott selbst. So, wie der Blick in den Sternenhimmel uns unsere Winzigkeit im Universum bewusst macht, führt uns die Demut zur Wahrheit über uns selbst – und zur Anbetung dessen, der alles geschaffen hat.
Demut ist der Anfang allen geistlichen Lebens. Sie steht an der Schwelle der Seligpreisungen und bildet den Nährboden, aus dem Sanftmut, Barmherzigkeit und ein reines Herz erwachsen. Schon Maria, die Mutter des Herrn, wurde nicht um ihrer Stärke willen erwählt, sondern wegen ihrer innerlichen Kleinheit. „Gott ist – so sagte Papst Franziskus – von unserer Kleinheit angezogen, wenn wir sie annehmen.“
Diese geistliche Einsicht formte letztendlich auch das Leben und Wirken von Papst Franziskus. Insbesondere sein Dienst an den Armen, seine Gesten der Nähe, seine Bereitschaft zum einfachen Leben – sie alle zeugten von einem tiefen Bewusstsein für die eigene Begrenztheit und für die Größe Gottes. Dienstbereitschaft und innere Haltung waren ihm in seinem Pontifikat wichtig.
In einer seiner letzten Ansprachen zur Demut sagte er:
„Demut ist alles. Sie bewahrt uns vor dem Bösen und vor der Gefahr, dessen Komplizen zu werden. Sie ist die Quelle des Friedens in der Welt und in der Kirche. Wo Demut fehlt, da regiert Zwietracht. Gott hat uns in Jesus und Maria ein Beispiel gegeben, damit die Demut unser Heil und unsere Freude sei. Sie ist der Weg zur Erlösung.“
Mögen wir uns so an Papst Franziskus erinnern: Nur wer sich in rechter Weise erkennt, wird fähig, sich Gott zu öffnen. Und nur wer sich klein weiß, kann wirklich groß werden – in der Liebe, im Dienst und im Glauben.
„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ (Johannes 3,30).
Quelle: Fr. Nathaniel Dreyer, Demut