Thérèse von Lisieux war überzeugt: Gott legt keine unerfüllbaren Wünsche in das Herz des Menschen. Deshalb durfte sie trotz ihrer Kleinheit die Sehnsucht nach Heiligkeit wagen. Wie? Indem sie einen eigenen, kleinen Weg fand – einen „Aufzug der Liebe“, nämlich in den Armen Jesu. Auf ihrer Suche nach Liebe und Heiligkeit fand sie in der Heiligen Schrift die Antwort: die Entdeckung ihres „kleinen Weges“, wie sie es im letzten Manuskript der Geschichte einer Seele erzählt.
Ich will den Weg suchen, um in den Himmel zu gelangen auf einem kleinen, ganz geraden, ganz kurzen Weg, einem ganz neuen kleinen Weg. Wir leben in einem Zeitalter der Erfindungen: es ist nicht mehr nötig, mühsam die Treppen zu steigen; bei den Reichen ersetzt ein Aufzug vorteilhaft die Stufen. Auch ich möchte einen Aufzug finden, um zu Jesus aufzusteigen, denn ich bin zu klein, um die harte Treppe der Vollkommenheit zu erklimmen. Da habe ich in den heiligen Büchern nach diesem Aufzug gesucht, dem Gegenstand meines Verlangens, und ich stieß auf die Worte der Ewigen Weisheit: ‚Ist jemand ganz klein, so komme er zu mir.‘ Da kam ich, überzeugt, gefunden zu haben, was ich suchte. Und ich wollte wissen, o mein Gott, was Du dem ganz Kleinen schenken würdest, der Deinem Ruf folgt. Ich habe weitergesucht und dies entdeckt: ‚Wie eine Mutter ihr Kind liebkost, so will ich euch trösten, ich will euch an meiner Brust tragen und euch auf meinen Knien wiegen.‘ Ach, nie sind zärtlichere, liebere Worte an meine Seele gedrungen. Der Aufzug, der mich bis in den Himmel emporheben soll, das sind Deine Arme, o Jesus! Und dafür brauche ich nicht groß zu werden, im Gegenteil: ich muss klein bleiben, ja immer kleiner werden. O mein Gott, Du hast meine Erwartung übertroffen – und ich will Deine Barmherzigkeit besingen.
Der kleine gerade Weg
Thérèse findet ihre Freude darin, sich von Gott tragen zu lassen – auf einem ganz geraden Weg, der nicht mehr die harte Treppe der Vollkommenheit ist. Ihre Freude besteht darin, sich Jesus zu überlassen, der sich zu ihr herabneigt und sie mit seiner Liebe erfüllt. Ihr einziges Verdienst ist, kein Verdienst zu haben. Das Bewusstsein ihrer Ohnmacht bewahrt sie vor jedem Streben nach heroischen Taten, Ekstasen oder außergewöhnlichen Dingen, die die Seele so leicht mit Stolz erfüllen.
Schon als Novizin schrieb sie an Schwester Agnes, noch vor der eigentlichen Entdeckung ihres kleinen Weges:
Ich verlange nicht danach, nach Lourdes zu gehen, um Ekstasen zu erleben; ich ziehe die Monotonie des Opfers vor! Welch ein Glück, so verborgen zu sein, dass niemand an dich denkt – ja, sogar den Menschen unbekannt zu bleiben, die mit dir zusammenleben! (Brief 106).
Dieser kleine Weg, in der Heiligen Schrift entdeckt, ist besonders für jene, die innerlich verstehen, dass die Annahme ihres Elends die göttliche Barmherzigkeit herabruft. Thérèse lehrte diesen Weg mit der Autorität einer, die auf der geistlichen Ebene tatsächlich Neuland eröffnet. Von Anfang an erkannte sie: ihr kleiner Weg unterscheidet sich von dem der großen Heiligen, weil er gerade die gewöhnlichen Mittel und die Tugenden der geistlichen Kindheit betont: Einfachheit, Demut, Hingabe, Geradheit und die Freude, Jesus durch selbstlose Liebe zu trösten.
Selbst die Erinnerung an vergangene Schuld wird ihr zur Quelle der Freude – weil sie sie stets an das fortwährende göttliche Erbarmen erinnert. Keine Vergangenheit ist zu schwer, wenn wir sie in der Demut eines verziehenen Sünders annehmen.
Schwester Marie von der Dreifaltigkeit, die drei Jahre mit Thérèse im Noviziat lebte, fasste diesen „geraden kleinen Weg“ in einem Brief an Schwester Germaine, eine junge Professe des Karmel von Angers, so zusammen:
Ich glaube wirklich, dass es das erste Mal ist, seit es die Welt gibt, dass man eine Heilige kanonisiert, die nichts Außergewöhnliches getan hat: keine Ekstasen, keine Offenbarungen, keine Entsagungen, die kleine Seelen wie die unsrigen erschrecken. Ihr ganzes Leben lässt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: Sie hat den lieben Gott in allen kleinen gewöhnlichen Handlungen des Gemeinschaftslebens geliebt und sie mit großer Treue erfüllt. Sie hatte stets eine große Seelenruhe, im Leiden wie in der Freude, weil sie alles als von Gott kommend annahm.
Die Erfahrung der Barmherzigkeit
Der kleine theresianische Weg, auch „Weg der geistlichen Kindschaft“ genannt, ist keine Straße nur für eine Elite oder die Vollkommenen. Er ist ein Weg, den man schon am Anfang des geistlichen Lebens einschlägt, in der Gewissheit, dass die göttliche Barmherzigkeit sich über jene ergießen will, die sich ihr hingeben. Dieser gerade kleine Weg führt Schritt für Schritt auf die Höhen der Hingabe und Liebe, bis zum Gipfel des Verlangens Jesu, zu lieben und geliebt zu werden.
Thérèse sehnt sich nach dieser Heiligkeit, die im Kern eine Erfahrung der Barmherzigkeit ist – trotz ihrer Ohnmacht, ihrer Kleinheit, ihrer leeren Hände. In ihrem Akt der Hingabe an die barmherzige Liebe schreibt sie:
Am Abend dieses Lebens werde ich vor Dir erscheinen mit leeren Händen; denn ich bitte Dich nicht, Herr, meine Werke zu zählen. All unsere Gerechtigkeit ist befleckt vor Deinen Augen. Ich will mich daher mit Deiner eigenen Gerechtigkeit bekleiden und von Deiner Liebe den ewigen Besitz Deiner selbst empfangen. Ich will keinen anderen Thron und keine andere Krone als Dich, o mein Geliebter! (Gebete 6).
In unserer Welt voller Angst und Misstrauen erinnert Thérèse daran, alles auf Vertrauen und Barmherzigkeit zu setzen. Sie ersetzt das Bild eines strafenden Gottes, der unzählige Opfer und Werke verlangte, durch das Bild eines barmherzigen Gottes, der die kleine Seele im Aufzug seiner Liebe emporhebt. So verliert die Versuchung an Macht, sich durch eigene Werke zu rechtfertigen, das Heil kaufen zu wollen oder sich der empfangenen Gaben zu rühmen. Wahre Heiligkeit besteht nicht in äußeren Formen, sondern allein in der Barmherzigen Liebe – und in dem, was daraus folgt: Hingabe, Vertrauen, Hoffnung, Dankbarkeit.
Eine Heiligkeit für alle
Der „kleine Weg“ hat die Heiligkeit befreit von den Fesseln äußerster Vollkommenheit und strenger Gerechtigkeit – lange bevor das Zweite Vatikanische Konzil verkündete, dass alle zur Heiligkeit berufen sind. Thérèse zeigt: Nicht unsere Anstrengung und unsere Tugenden stehen im Vordergrund, sondern das beständige Wirken Gottes in uns, der uns eingibt, welchen Liebesakt wir setzen sollen.
Die junge Karmelitin hat die Heiligkeit für alle ermöglicht: durch ihren kleinen Weg des Vertrauens, der allen offensteht. Heilig sein heißt für sie: sich den Strömen der göttlichen Zärtlichkeit öffnen, sich seiner unendlichen Barmherzigkeit überlassen, sich verzehren und verwandeln lassen durch seine Liebe – gerade in den kleinen und scheinbar unbedeutenden Dingen des Alltags. Heiligkeit ist dann nichts anderes als unsere menschliche Schwäche und Zerbrechlichkeit—angenommen als eine Gnade—ganz an Gott anzubieten, einzutauchen in die göttliche Barmherzigkeit.
Der ehrwürdige Marie-Eugène vom Kinde Jesus, ein großer Kenner der Spiritualität Thérèses, fasste es so:
„Heiligkeit ist die Kraft Gottes in der Schwäche des Menschen.“
Zwölf Kennzeichen des kleinen Weges
Unter äußerer Einfachheit verbirgt sich der kleine Weg der Thérèse – ein Weg des Vertrauens und der Liebe, der in seinem geistlichen Realismus anspruchsvoll ist. Er lässt sich in zwölf Haltungen zusammenfassen:
Nicht auf eigene Verdienste bauen, sondern auf Gott hoffen, der unsere Stütze ist.
Sich nicht über die Schwächen anderer wundern, sondern sich an ihren Tugenden erbauen.
Über Misserfolge nicht verzweifeln, sondern die eigenen Unvollkommenheiten geduldig tragen.
Nicht auf die eigene Kraft vertrauen, sondern den Aufzug der Liebe nehmen.
Nicht alles aus eigener Anstrengung tun wollen, sondern Jesus still wirken lassen.
Nicht das Glänzende suchen, sondern verborgen bleiben in den Armen Jesu.
Nicht das Außergewöhnliche bevorzugen, sondern die gewöhnlichen Mittel nutzen.
Sich nicht von lähmenden Ängsten bestimmen lassen, sondern sich dem Vater überlassen.
Nicht die Werke zählen, sondern den Durst Jesu stillen.
Sich die Fortschritte nicht selbst zuschreiben, sondern erkennen, dass alles von Gott kommt.
Nicht mutlos werden, sondern glauben, dass man würdig ist, geliebt zu werden.
Sich nicht im Leiden verlieren, sondern den Blick auf Jesus richten.
Quelle: aus dem Blog von Jacques Gauthier, 2013